Transformation als Lebensschule

Ostdeutsche Frauen-Biographien als Reibungspunkte der Generationen

„In meinen Gesprächen habe ich immer wieder gemerkt: Da ist etwas, was es bei den Frauen im Westen Deutschlands noch nicht und im Osten Deutschlands noch immer gibt: das tief verinnerlichte Wissen, dass Arbeit Selbständigkeit verleiht, dass Kinder zum Leben dazugehören, dass es keine Schande ist, seine Kinder in Tageseinrichtungen betreuen zu lassen oder nach der Schule in den Hort zu schicken. Kurz: dass zur sozialen Frage immer auch die Frauenfrage gehört“ 

Dr. Judith C. Enders, Mandy Schulze

Die Frauen der „Dritten Generation Ostdeutschlands“, geboren zwischen 1975 und 1985, haben eine doppelte Sozialisation erlebt. Zum einen eine DDR-geprägte durch Eltern und Großeltern, welche den größten Teil ihres Lebens in der ehemaligen DDR verbracht haben. Zum anderen mussten sie sich abrupt in einem neuem Schul-, Ausbildungs-, Beschäftigungs-, ja Gesellschaftssystem zurechtzufinden.

Im medialen Diskurs taucht die dritte Generation kaum auf und wenn, dann sind es oft Beispiele gescheiterter Biografien. Dabei haben sie während des Transformationsprozesses einzigartige Kompetenzen erworben haben, die in vielen Bereichen der Arbeits- und Lebenswelt eine Bereicherung sein können.

Für diesen Artikel haben wir ausführliche Interviews mit 9 Frauen dieser Generation geführt. Die meisten von ihnen hatten für ein Studium ihre Heimat verlassen und waren entweder erwerbstätig oder auf der Suche nach einer passenden Tätigkeit.

Selbstverständlich Selbstständig

Die beruflichen Erwartungen waren das erste Thema, welche die jungen Frauen zwischen 25 und 35 Jahren ansprachen. Neben dem Thema Beruf und soziale Sicherheit, wurde das Verhältnis von Beruf und Mutterschaft bzw. Partnerschaft angesprochen. Sich beruflich zu verwirklichen und damit persönliche und finanzielle Selbständigkeit zu erlangen, beschreiben die befragten Frauen als Voraussetzung für eine gleichberechtigte Partnerschaft:

„Ich glaube in der Beziehung ist sehr, sehr wichtig, dass auch die Frau oder ich eben halt sehr selbstständig ist und da ihren eigenen, eigene Erlebnisse und Erfolgserlebnisse auch hat.“

Darüber hinaus ist dies aber auch Vorrausetzung für die Familiengründung. Wichtig ist bei allem ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen diese Sphären: Der finanzielle Erfolg steht nicht im Mittelpunkt bei der Frage nach einem gelungenen Leben. „Ich denke auch, was wichtig ist, dass das Leben eine gewisse Balance hat. Dass man ausgelastet ist mit den Sachen, die man alltäglich tut, und damit halt am Ende eine Zufriedenheit erlangt und glücklich schlafen kann. (…) Ja, da braucht man halt auch nicht so viel Geld. Da ist das eher zweitrangig.“

Die Entscheidung, für die Familienarbeit als Hausfrau und Mutter seine beruflichen Interessen in Frage zu stellen, tauchte in keinem unserer Gespräche auf. Als typisch weiblich — und damit kaum anders als in anderen Regionen Deutschlands — ist hingegen die Bereitschaft zu bezeichnen, das Streben nach Karriere nicht in den Mittelpunkt persönlicher Verwirklichung zu stellen: „Als Führungskraft bin ich jetzt ausgebildet, habe einige Trainings gehabt, habe auch schon viel gecoacht und Leute gehabt, die ich dann inhaltlich und so beraten habe jetzt, aber das ist okay. Also, ja, ich muss diese Rolle nicht haben“. Ebenso als typisch ist es, zugunsten von Familie und Kindern auf Teile der Karriere zu verzichten. Kindererziehung wird als Aufgabe für Frauen aber nicht hinterfragt.

Das Erbe der „Schlüsselkinder“

Die befragten Frauen kamen oft an einen Punkt, an dem sie über ihre Eltern und deren Einfluss auf ihr Leben sprachen. Dabei standen deren Erfahrungen mit der Transformation im Vordergrund. Um dieses Erbe wird scheinbar noch gerungen. Die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen wird bewusst problematisiert: „Meine Eltern sind geschieden, also zu meinem Vater hab ich jetzt nicht weiter groß Kontakt. Er ist halt aber das, was so ein typischer Wendeverlierer ist, was man sich darunter vorstellt. Weil es halt eben auch das für unsere Beziehung so schwer gemacht hat und weil mich dann auch immer …

«Also das Problem ist, dass man mit den Eltern nicht darüber reden kann.“

Die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration spielt für die jungen Frauen aus dem Osten mit Kindern eine ebenso so große Rolle wie für alle anderen jungen Eltern: „Wenn du Kinder hast, dann spielst du deine eigene Kindheit ungewollt auch immer wieder durch.“ Die doppelte Sozialisation der Befragten in Ost und West spielt in der Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit jedoch eine besondere Rolle und wird zur innerfamiliären und gesellschaftspolitischen Herausforderung:

„So eine simple Frage wie: Sag mal, Mutti, wann hast denn du uns eigentlich immer abgeholt nach der Kita? (…) Und die ist total ausgetickt an dem Tag: Wir haben alle gearbeitet, wir konnten gar nicht anders!»

«Natürlich, wir haben euch um halb sieben hinbringen müssen, weil wir mussten um sieben Uhr auf Arbeit sein! Wir haben Vollzeit gearbeitet, und wir konnten nicht so schöne Sachen machen wie ihr jetzt, und so. Und dann in den 90ern auch: Ja, ihr wart nun mal Schlüsselkinder, und jetzt sagen sie immer Schlüsselkinder dazu, aber es war ganz normal, dass ihr den Schlüssel hattet und nach Hause gehen konntet, wann ihr wolltet. Man hat auch Vertrauen gehabt zu seinen Kindern, und jetzt wird man so [angesehen], als ob man sich nicht gekümmert hat so … .“

Wir müssen reden: über den Wert der Alltagserfahrung

Hier steht das kritisch gesehene Bild der Mutterschaft in der DDR, für das sich die jungen Großmütter glauben rechtfertigen zu müssen, einem echten Interesse der jungen Frauen, die ihren eigenen Platz in der Gesellschaft als Mütter suchen, entgegen. Eine junge Frau spricht allerdings klar aus, was es gesellschaftlich für eine konstruktive Auseinandersetzung und schöpferische Aufarbeitung der Transformationserfahrungen der Eltern braucht.

„Was ich finde, was absolut in diesem medialen Diskurs vernachlässigt wird, das sind so diese persönlichen Biografien, auch abgesehen von Knastgeschichten, mal hart gesagt, oder Fluchtversuchen, oder wie auch immer. Also ich finde so, diesen Mikrokosmos auch einer normalen Durchschnittsfamilie damals in der DDR, auch eben unserer Generation, das wird vollkommen vergessen irgendwie.

(…) Das ist unsere Kindheit, das kann man nicht ändern. Und es ist ja auch gut, wie es jetzt so gelaufen ist, dass die Wende kam, dass wir die Chance hatten, noch mal ganz neu anzufangen, ein anderes Leben zu führen, als unsere Eltern das konnten.

Aber der Diskurs fehlt, die Diskussion in der Öffentlichkeit, aber auch untereinander, dass man sich quasi bekennt dazu auch: Hey, wir teilen da was, wir haben irgendwie ein gemeinsames Fundament, warum reden wir nicht mal drüber?

Also sogenannte westdeutsche Freunde, die dann sagen: Ja, es war ein Stück Geschichte, aber hey, ist doch vorbei. Aber es ist ja noch da, es ist ja trotzdem präsent. Also meine Familiengeschichte prägt das bis heute. Viele Streitereien, viele Zerwürfnisse beruhen immer noch darauf, auf Vorwürfen auf ungeklärten Ereignissen, wie auch immer. Und ja, es wäre schade, das nicht irgendwie auch mal zum Anlass zu nehmen, darüber zu reden“. Oder mit den Worten Martina Rellins, die als westdeutsche Journalistin und Autorin ostdeutsche Frauen nach der Wende befragte:

„Auch in meinen Gesprächen für dieses Buch habe ich immer wieder gemerkt: Da ist etwas, was es bei den Frauen im Westen Deutschlands noch nicht und im Osten Deutschlands noch immer gibt: das tief verinnerlichte Wissen, dass Arbeit Selbständigkeit verleiht, dass Kinder zum Leben dazugehören, dass es keine Schande ist, seine Kinder in Tageseinrichtungen betreuen zu lassen oder nach der Schule in den Hort zu schicken. Kurz: dass zur sozialen Frage immer auch die Frauenfrage gehört“ (Rellin 2004: 11f).

Darum bleibt es wichtig, sich mit den Frauen der ehemaligen DDR und mit ihren alltäglichen Geschichten auseinanderzusetzen, im Gespräch zu bleiben. Gerade für die Frauen der Transformationsgeneration ist dies eine Chance, die eigenen Identität zu schärfen und sowohl die Stärken (Stichwort: weibliche Unabhängigkeit) als auch die Schwächen (Stichwort: Doppelbelastung) der Lebensentwürfe der DDR-Frauen kennenzulernen. Es gilt, medialen Zuschreibungen etwas „Reales“ entgegenzusetzen.