„Es geht nicht um einen Minimalkonsens“

„Mapping Memories of Post-1989 Europe“ —  Konferenz 29.11. — 01.12.2015 in Wien.
Polina Filippova, Sacharow-Zentrum Moskau, nahm als Mitglied des Transition Dialogue-Netwerkes an der Konferenz teil.
Beitrag von Maria Ugoljew, freie Journalistin
Wien. Historiker und Aktivisten begaben sich auf der Konferenz „Mapping Memories of Post-1989 Europe“ in Wien auf die Suche nach einem gemeinsamen Narrativ für Europa. Dazu wurden in Workshops und auf Podiumsdiskussionen gegenwärtige ost- wie westeuropäische Diskurse skizziert, Forschungsprojekte vorgestellt und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede in den Erinnerungskulturen umrissen.
Auf die Frage ob ein gemeinsames europäisches Narrativ gegenwärtig machbar ist und wenn ja, welche Ansätze dabei zu berücksichtigen wären, gab es verschiedene Antworten. Eine Spurensuche.
Professioneller Diskurs vs. politischer Opportunismus
Dass es für Ost- und Westeuropa in naher Zukunft ein gemeinsames Narrativ geben könnte – daran war nach Alexei Millers Beitrag gar nicht zu denken. Der Geschichtsprofessor der European University St. Petersburg bezeichnete die aktuellen Entwicklungen vielmehr als eine „Tragödie“. Geschichte werde auf beiden Seiten politisiert, Akademiker würden sich wie Politiker verhalten und die „Rolle öffentlicher Gurus“ einnehmen. Statt eines professionellen Diskurses herrsche politischer Opportunismus. Der Euromaidan werde als Faschisten-Bewegung bezeichnet, die Nord Stream-Pipeline mit dem Hitler-Stalin-Pakt verglichen und Wladimir Putin als Hitler des 21. Jahrhunderts bezeichnet. „Wie konnte es passieren, dass Geschichte so politisiert wird?“ fragte er.
Das Individuum gehört in den Mittelpunkt
Ruhigere Töne schlug hingegen Polina Filippova vom Sacharow-Zentrum in Moskau an. Die Situation sei zwar eine schwierige, „aber wir dürfen uns nicht zurücklehnen und sagen, dann ist das halt so im Westen und im Osten“. Bei der Entwicklung eines gemeinsamen Narrativs müsse vor allem eines berücksichtigt werden: der humanitäre Ansatz, der das Individuum in den Mittelpunkt rückt. Ein Aspekt, den auch Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, forderte. Denn erst durch die humanistische Grundierung würden unterschiedliche Narrative zum Tragen kommen.
Klein statt groß, lokal statt elitär
Einen Perspektivwechsel forderte Zaal Andronikashvili vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Man müsse von den kleineren Ländern ausgehen, nicht von den großen, sagte er. Denn eine europäische Erinnerungskultur könne nur gelingen, wenn alle Stimmen berücksichtigt werden. „Aber ich weiß nicht, ob man das schafft“, sagte Zaal Andronikashvili.
Ljiljana Radonić von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien bat ihre Kollegen, beim Politisierungsprozess von Geschichte nicht zuzuschauen – Wissenschaftler sollten sich dagegen wehren, „nicht neutral und höflich sein, sondern Kritik üben“. Hinsichtlich eines europäischen Narrativs regte sie an, den Prozess keinesfalls mit einem Minimalkonsens abzuschließen, zu normieren oder zu kanalisieren. Viel wichtiger sei die Frage, wie diese Diskussion geführt werde und ob aus der elitären Idee ein lokales Projekt entstehen könnte.
International statt national
In welchem Verhältnis nationale und internationale Erinnerungen zueinenader stehen sollten, darüber sprach unter anderem Oliver Rathkolb von der Universität Wien. Er plädierte dafür, nationale Erinnerungsräume aufzubrechen und sich loszulösen von der Idee, dass es das eine Narrativ gebe. Weder funktioniere das für eine Nation, noch für Europa.
Maria Ugoljew