Im Buch «Wie war das für Euch? Die Dritte Generation Ost im Gespräch mit ihren Eltern» erzählen die 1975 bis 1985 Geborenen, warum sie nicht aufhören können, sich mit der eigenen Herkunft und der Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Die Interviews und Reflexionen im Buch zeigen aber auch, dass diese Auseinandersetzung über Transformationserfahrungen in der Familie auch eine wichtige gesellschaftliche Dimension hat. Judith Enders ist Mitherausgeberin des Buches und Mitglied des Transition Dialogue-Netwerks. Wir haben nachgefragt.
Was wolltet ihr wissen?
Judith: Gibt es in eurer Familie Kommunikation über die Wendezeit? Wenn ja, wo und wie läuft diese ab, gibt es Tabuthemen oder Grenzen? Wenn nein, warum nicht? Was sind die Ursachen für das Schweigen?
Mit welchen Erwartungen bist Du an das Buch herangegangen?
Judith: Meine Vorannahme, dass sich ein differenziertes Bild ergibt, da es ja nicht den DDR-Bürger gab. Die AutorInnen sind zufällig zusammengestellt, aus unterschiedlichen Lebensumständen: Beruf, soziale Einbindung, Familiengeschichte. Zum Teil haben wir Leute angesprochen, die wir kannten. Andere trafen wir einfach zufällig. Das Kriterium war Menschen zu finden, die Lust auf den Dialog mit den Eltern hatten. Aber auch einige, wo die Kommunikation mit der Elterngeneration Schwierigkeiten machte, weil diese eigentlich nicht wollten oder noch nicht darüber nachgedacht hatten – wo unserer Buchprojekt den Impuls gab, diesen Dialog zu beginnen. Das war zum Teil eine emotionale Herausforderung, hier mussten wir die Entstehung des Textes wohlwollend begleiten.
Was hat Euch bewegt, dieses Buch zu machen?
Judith: 2012 organisierten wir mit der Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ eine Konferenz zum Thema „Die Dritte Generation Ost im Dialog mit der Zweiten Generation“. Hier haben wir gemerkt, dass sich unter den 100 Leuten eine interessante Dynamik entwickelte, eine große Verwunderung darüber, dass das Thema so wenig bearbeitet ist, dass es so wenig Gespräch zwischen den beiden Generationen über die DDR gibt. In den meisten Familien gibt es eine große Sprachlosigkeit, jenseits von Anekdoten oder Allgemeinplätzen über die Vergangenheit. Das hat uns motiviert, dieser Thematik Raum zu geben. Das Buch soll ein Anstoß für die Leserinnen und Leser sein, mit der eigenen Familie ins Gespräch zu kommen und im eigenen Umfeld weiter zu diskutieren.
Warum sollte ich als Mitdreißigerin mit meinen Eltern über die DDR reden?
Judith: Das ist grundsätzlich für alle Menschen wichtig, da unausgesprochene Dinge in der nächsten Generation weiter wirken. Das Spezifische bezüglich der dritten Generation Ostdeutschlands ist, dass ihre Elterngeneration in einer Zeit, in der die Eltern sich normalerweise mit ihren Kindern über ihre Zukunft, Werte etc. auseinandersetzen, also in der Pubertät, dazu wenig Gelegenheit hatten, da sie zu sehr mit sich selbst und der Bewältigung der Umbruchszeit beschäftigt waren.
Eine weitere Dimension ist, dass man nach circa 20 bis 25 Jahren überhaupt erst gesellschaftliche Ereignisse so reflektieren kann, dass die Emotionen nicht überhand gewinnen und eine sachliche Auseinandersetzung erschweren.
In Eurem Buch spricht eine Autorin von der Erwartung eines „Ostdeutschen 68“. Das wäre jetzt zeitlich so weit. Hattet ihr erwartet, dass das käme?
Judith: Erwartet nicht, aber die Idee hat Charme. Ich denke, dass aufgrund des gesellschaftlichen Drucks dafür kein Raum da ist. Es gibt zu viele andere Probleme. Aber nötig wäre es, um eine Aufarbeitung des noch nicht Bearbeiteten anzustoßen. Die Auseinandersetzung mit der DDR erschöpft sich ja nicht im Auswerten der Stasi-Akten. Und in Westdeutschland gab es wenn überhaupt nur eine marginale Auseinandersetzung mit der DDR Alltagskultur und der Wendezeit. Ich glaube, da haben viele kein Gefühl dafür, wie schwierig die Umbruchzeit für viele im Osten war. Da fehlt das Verständnis, nicht nur Empathie sondern einfach das Verstehen, was passiert ist und was das mit den Menschen gemacht hat. Die Bürger aus Westdeutschland sollten auch erkennen, dass die Wende Teil ihrer eigenen Geschichte ist.
Wie wirkt diese verpasste Auseinandersetzung auf die Gesellschaft heute?
Judith: Es gibt immer noch strukturelle Unterschiede im Engagement, in der Bewertung und Wahrnehmung der Demokratie als Staatsform und den Möglichkeiten der Entfaltung, die sie dem Einzelnen bietet.
Es ist wichtig, die eigenen Rolle und das eigene Verhaltens in der DDR erst einmal in der Familie zu reflektieren. Das ist ein Schutzraum, wo das Gespräch weniger mit Schuld und Scham belastet ist und man einfacher darüber reden kann, wie es einem damals erging und wie es einem heute mit der Erfahrung geht. Dies öffnet dann Reflektionsräume dafür, auch öffentlich diese Debatte zu führen und sich auseinanderzusetzen. Man muss im Schutzraum des Privaten zunächst selbst seine Haltung finden, um sich der gesellschaftlichen Auseinandersetzung stellen zu können.
Wenn man die Vergangenheit persönlich nicht verarbeiten kann, dann blockiert das ganze gesellschaftliche Gruppen oder eine ganze Generation – die ja auch nur aus vielen Individuen besteht – neue Situationen und Erfahrungen anzunehmen. Die verpasste Auseinandersetzung im Privaten hindert eine ganze Generation sich mit der Gesellschaft heute, ihren Möglichkeiten aber auch ihren Problemen auseinanderzusetzen.
Das Interview führte Christine Wetzel
von Judith C. Enders (Hg.) (Autor), Mandy Schulze (Hg.) (Autor), Bianca Ely (Hg.) (Autor)